Blog Jürgen Schaarwächter

Datum: 08.03.2017 | Autor: Jürgen Schaarwächter

Rauschebart und Brauthäubchen
Ein Plädoyer für die Verfügbarmachung und Pflege der Tradition des Opernfilms


In einer Zeit des Regietheaters sind wir es gewöhnt, dass die Produktion mehr oder minder verächtlich auf die originalen Regieanweisungen herabschaut. All die tiefen Wälder und eleganten Salons – das alles ist doch sooo überholt und unnötig. Lasst uns das ersetzen durch etwas anderes, etwas Wichtigeres!
Die Diskussion um die richtige Opernregie ist beim besten Willen nicht neu, ist im Grunde fast so alt wie die Oper selbst. Schon zu Zeiten der Krolloper trat der fliegende Holländer im schwarzen Gehrock auf, und intelligente Umsetzungen wie etwa Nikolaus Lehnhoffs letzte „Turandot“-Produktion an der Mailänder Scala 2015 schadet dem Werk auch nicht (auch wenn man sich fragen darf, warum aus dem „silbernen Gewand“ des Librettos ein schwarzes werden muss). Susannas „il mio cappello“, auf das sie Figaro zu Beginn von Mozarts Oper aufmerksam zu machen versucht, ist noch seltener zu sehen als die „listige Schlange“ der „Zauberflöte“. Dass die Regeln des Meistergesangs nicht ohne Beschädigung in eine wie auch immer geartete Zukunft zu transferieren sind, ist bei einem Ernstnehmen des Librettos (und des musikalischen Gestus) eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Doch schon 1930 schrieb Hans Pfitzner über eine neue „Ring“-Inszenierung an der Dresdner Staatsoper: „Was mir bei dieser Aufführung als Stilprinzip so hoffnungsvoll war und meine Meinung erhärtete, daß ein ‚Problem’ bei Wagner im Sinne von Widerspruch mit der fortschreitenden Zeit nicht vorliegt, war die durchgehende zu beobachtende Verbindung von genauester (nicht geistlos pedantischer) Beachtung der Vorschriften des Meisters mit dem Streben nach neuartigen und kühnen Lösungen. [...] Im treuesten Einvernehmen mit [dem Regisseur Otto] Erhardt gab er [der österreichische Bühnenbildner Oskar Strnad] dem Werk eine bildliche Gestalt, die ihm alle Phantastik beließ, und dennoch das Reale aller Vorgänge in deutlicher Plastik entstehen ließ. Ueberhaupt lag der Zauber dieser Aufführung darin, daß man deutlich fühlte: hier arbeitet nicht jeder auf seinen eigenen Erfolg hin, sondern [...] hier streben drei Männer [Regie, Ausstattung, Dirigent] nach einem Mittelpunkt hin, nämlich dem Geist des Werkes [...]. Der Spielleiter oben interessiert sich für den musikalischen Ausdruck genau so wie der Musiker am Pult für die szenische Geste, das Bildhafte im Zusammengehen mit der Musik; so wie der Maler bemüht ist, sein Bild nicht im Widerspruch zu der Sprache der Musik und der lebendigen Handlung zu stellen.“ Die Literatur ist voll solcher dem „Werk“ dienenden Äußerungen, und glücklicherweise entbehren auch nicht alle Theater entsprechender Umsetzung.
Und dennoch gibt es mittlerweile (auch in Dresden) Generationen von Operngängern, die noch nie eine Inszenierung gesehen haben, die das von Librettist und Komponist eigentlich Intendierte umsetzt. Die Vergewaltigung des Librettos wurde vielfach zur Religion erhoben, der musikalische Gestus, den Michael Hampe in seinen Rossini-Inszenierungen so kongenial „auschoreographiert“ hat, ignoriert und sogar konterkariert, die Selbstverliebtheit des Regisseurs, der immerhin eine beträchtliche Stange Geld ausgeben darf, nicht ins Programmheft verbannt, sondern in all seiner teilweise beachtlichen „Werkuntreue“ zum Kult erhoben. „Die Rauschebärte fallen“, so lautete ein Diktum aus einer FAZ-Besprechung zu Bayreuth 1976 – doch kann man den Mythos des „Rings“ tatsächlich ohne Zwerge, Riesen und Götter erzählen, ohne eine der Grundideen von Wagners Musikdenken zu ignorieren? Lässt sich die „Heilsbotschaft“ des „Freischütz“ ernsthaft zum Drogenrausch Agathes umdeuten, und wie funktioniert dann die Musik? Kann man Daphnes Verwandlung zum Baum noch auf die Bühne bringen, oder muss man nicht auf ganz viele Sujets verzichten, die sich einer „Vermodernisierung“ sperren? Das Opernleben hat längst reagiert – mit einer extremen Ausdünnung des Bühnenrepertoires besonders aus der Zeit des 19. Jahrhunderts. Weil die Regisseure mit den Libretti nichts anzufangen wissen. Weil der bildungsbürgerliche Hintergrund weggebrochen ist. Nicht weil die Musik nicht mehr beliebt wäre. Denn die Musik wollen die Regisseure ja behalten – gleich ob sie zur Handlung passt oder nicht. Neue Musik zu ihren neuen Inszenierungen wären aber eigentlich die einzige angemessene Lösung. Aber würde noch jemand in die Oper wollen, wenn ein Regisseur eine lose auf der „Zauberflöte“ basierende Handlung ohne die Musik Mozarts (womöglich sogar „historisch informiert“ dargeboten) auf die Bühne brächte. Die Musik rettet nicht selten die misslungenste Inszenierung, und wenn man selbst in Bayreuth den versöhnlichen Seufzer hören muss „Immerhin hat die Inszenierung nicht gestört“ – dann sollte eigentlich klar sein, dass es so nicht weitergehen kann. Das Publikum ist nicht dumm – es kann auch wegbleiben. Oper muss vitales musikalisches Theater sein. Am besten immer im Sinne der Musik und des Librettos, und wenn man eins oder beides verändert, dann bitte mit Intelligenz und Geschmack. Der Venusberg darf natürlich erotisch alle Tabus brechen – das ist in der Musik deutlich zu hören, und in „Schlachtopern“ darf natürlich auch Blut fließen, auch Blut in Strömen. Genauso darf vieles abstrahiert werden. Aber immer im Sinne des Werkes. Das Werk hat es nicht nötig, dass ein Regisseur seine irrelevanten Mätzchen Libretto oder Musik hinterlegt – wohl aber sind natürlich „werkgerechte“ Mätzchen etwa in Operetten durchaus legitim. Solange das Werk selbst nicht beschädigt wird. Dann sollte für das Publikum der Spaß aufhören.

Das Opernleben spiegelt ganz natürlich unser heutiges visuelles und auditives Empfinden. Was wir im Kino, im Fernsehen sehen, prägt uns auch in Theaterdingen. Was uns aber verloren zu gehen droht, ist das Wissen um die Sichtweisen der Vergangenheit. Die alten Inszenierungen werden „ausgemustert“, von den neuen Intendanten als „überholt“ betrachtet (Claus Peymanns „Berliner Ensemble“ wird, so hört man soeben, mit dem Intendantenwechsel komplett ausgetauscht). Und öffentlich leicht einsehbare Archive betreiben die Theater nicht – nicht nur weil es Geld kostet, sondern auch weil sich mancher „Ewiggestrige“ in die gute alte Zeit zurücksehnen könnte.
Vor allem Youtube und vergleichbare sozialen Medien bieten mittlerweile weit mehr solche Möglichkeiten – einen Münchner „Lohengrin“ von 1988 unter Wolfgang Sawallisch und August Everding, der zeigt, wie früher Wagner gegeben wurde, oder RAI-Verfilmungen von Verdi- und Puccini-Opern (und vielem mehr, zumeist in Starbesetzung). Andrea Andermanns „spektakuläre“ „Live Operas“ haben versucht diese Traditionslinie weiterzuverfolgen, aber ohne diese Tradition noch wirklich zu kennen. Wer kennt heute noch die unvergleichliche „Traviata“-Verfilmung von 1968 mit Anna Moffo oder Petr Weigls „The Turn of the Screw“ aus dem Jahre 1982, die seinerzeit auf Laserdisc lieferbar war, aber nie auf DVD oder Blu-ray vorgelegt wurde? Die BBC-Verfilmung von Michael Tippetts „King Priam“ von 1985 unter Roger Norrington wird von der Mehrzahl des Publikums ebenso wenig wahrgenommen wie eine 1994 entstandene, nie auf DVD erschienene BBC-Verfilmung von „Le nozze di Figaro“ – auf Englisch und modernisiert, mit Kammerensemble statt historisch informiertem Orchester und dennoch voller Mozart’schem und Da Ponte’schem Geist (mit einem Hauch Pre-Brexit-Sarkasmus dabei). Die große Anzahl an deutschen Opernfilmen der 1960er- bis frühen 1980er-Jahre, die die Hochzeit der Opernproduktionen der Electrola historisch begleitete, wird bislang konsequent von den Rundfunksendern und dem Handel ignoriert. Wann endlich kommen „Zar und Zimmermann“ mit Lucia Popp, Hermann Prey und Karl Ridderbusch, wann „Die lustigen Weiber von Windsor“ mit Helen Donath, Wolfgang Brendel und abermals Ridderbusch sowie keinem Geringeren als Rafael Kubelík am Pult? Lortzings „Wildschütz“ mit Walter Berry ist immerhin auf Youtube auffindbar, ebenso wie solche Schätze wie Egks „Die Zaubergeige“ oder ein Wiener Aufführungsmitschnitt von Einems „Dantons Tod“ aus dem Jahre 1963; aber auch Abbados Wiener Aufführungsmitschnitt von Rossinis „Il viaggio a Reims“ von 1988 mit Montserrat Caballé, Soltis Pariser „Le nozze di Figaro“ von 1980 mit José van Dam und Lucia Popp, Carlos Kleibers Mailänder „Otello“ von 1976 mit Plácido Domingo in Bestform oder Bonynges New Yorker „Don Giovanni“ von 1978 mit Joan Sutherland und Julia Varady finden nicht den Weg auf die silberne Scheibe. Viele Rundfunkarchive bergen reiche Schätze, Opern- und Ballettfilme wie Aufführungsmitschnitte, die die Aufführungstradition der Vergangenheit verlebendigen würden. Es steht zu hoffen, dass die alten Rundfunkbänder nicht nur nicht gelöscht werden, sondern – im Sinne einer nachhaltigen Verwendung von Rundfunkgebühren – vielmehr der Öffentlichkeit wieder verfügbar gemacht werden. Und wer weiß – ist ein solches Bewusstsein erst wieder geweckt, vielleicht wagt sich dann ja einmal jemand an eine Realverfilmung des „Rings des Nibelungen“ (im Internet findet man einen französischen „Real-Tristan“ aus dem Jahre 1962 ...). Es ist viel zu entdecken – stürzen wir uns drauf.