Deutsche Theater-Clubs?

Vor längerem äußerte der Berliner Kritiker Karsch, außer Zuckmayer und Rehberg sehe er nichts auf dem deutschen Bühnenautorenfelde des Nachkriegs. Der frühere Kölner Chefdramaturg Werckshagen hingegen sagte, es gebe brauchbaren Bühnenautorennachwuchs, aber man schweige ihn tot. „Die zeitgenössische deutsche Dramatik ist und bleibt unbekannt. Es gibt keinen deutschen Publizisten, der auch nur annähernd eine Vorstellung davon hätte, was an Dramatik heute geschrieben wird, und niemand weiß, daß sich unter dem Wust ausgezeichnete, spielbare, eigenwillige Stücke befinden. Die Öffentlichkeit hat nicht nur keine Kenntnis von den Stücken, sie hat auch nicht die Möglichkeit, die Theater in irgendeiner Form zu kontrollieren.“
Werckshagen erklärte das im Oktober 1952 vor einem Dutzend prominenter deutscher Verleger. Und es wird berichtet, daß niemand zu seinen Worten auch nur einen einzigen Satz sagte. Kurz vorher hatte der Redner seinen Posten als Chefdramaturg der Kölner Städtischen Bühnen aufgegeben und war zum Kultursenat der Stadt Berlin gegangen.
Die Äußerungen beleuchten blitzartig die prekäre Situation, in der der unbekannte deutsche Dramatiker sich befindet. Ein im Amt befindlicher Dramaturg verneint seine Existenz, der andere bejaht sie und verläßt dann eine Schlüsselposition, wo er dem Dramatiker helfen könnte. Was soll man daraus schließen?
Da unter solchen Umständen so mancher unbekannte Autor, unter denen der kommende sein könnte (vor wievielen werdenden Autoren in der ganzen Welt ist die Kritik nicht blind gewesen?), überhaupt nicht mehr an Ohren, geschweige denn an Augen heran kommen kann, erhebt sich die Frage, was geschehen könnte.
Es müßte einen Verlag geben, der jene Dramen druckt, die die Dramaturgen gern als „Lesedramen“ bezeichnen. In Italien gibt es Monatszeitschriften, die in jedem Heft ein neues Bühnenstück abdrucken. In der Blütezeit des deutschen Theaters (1920-30) gab es auch in Deutschland Verleger, die Dramen druckten, ohne daß sie vorher gespielt waren.
In jeder deutschen Stadt müßte eine Lesebühne erstehen, wo Dramen mit verteilten Rollen vorgelesen werden. Aus einer solchen Lesebühne ist das schnell zu internationalem Ruhm emporgestiegene Teatro Piccolo in Mailand entstanden.
Die Lesebühnen könnten sich als Theater-Clubs konstituieren. In Deutschland entsteht monatlich ein Film-Club – wie sollte nicht auch ein Theater-Club entstehen können? Das, was man in den Film-Clubs oft bedauert, nämlich daß man dort am Ende des Schaffensprozesses steht und nur hinterher kritisieren kann, ist im Theater-Club anders; dort würde man am Anfang stehen, in den Werdegang eines Werkes eingreifen und dazu beitragen können, daß es ans Licht der Öffentlichkeit tritt.
Eine Lesebühne kann starke dramatische Erlebnisse vermitteln. Sie führt zu einer Diskussion, die die Eigenschaften eines Stückes ableuchtet. Sie dient der Klärung der Begriffe und führt zu Protest und Zustimmung. Die Diskussion erzieht auch zur Schlagfertigkeit und lehrt die Jungen, sich in der Aussprache demokratisch zu schulen. Solche Lesungen könnten an einem Sonntagmorgen oder an einem Wochentagabend stattfinden. Ein kleines Gremium nähme die Auswahl der Stücke vor – ohne Siebung geht es nicht. Kritiker der betreffenden Stadt übernähmen die ehrenamtliche Verpflichtung, monatlich zwei Stücke zu lesen und sie dem Gremium an- oder abzuempfehlen. Aber da höre ich...
Ja, was höre ich da?
Ich höre so etwas wie das Wort Korrumpierung. Wenn man so etwas ausgewählt hätte, müsse man es nachher auch loben. Das sei eine Vermantschung der Funktionen. Aber das vom Kritiker empfohlene Stück wird ja nur zur Diskussion gestellt und es fällt auf ihn nicht der Schimmer einer Verantwortung für seinen weiteren Weg.
Vorwähler sollten weiter sein jene, die eine echte Leidenschaft für das Theater haben. Das Gremium würde sich aus Herren und Damen zusammensetzen, denen die tatsächliche Aussagekraft des heutigen Theaters am Herzen liegt und denen der reine Abspielbetrieb nicht paßt.
Um den Lesebühnen den Charakter der zusätzlichen Auswahl zu sichern, sollten die Intendanten einen solchen Theater-Club als einen fruchtbaren Antipoden betrachten, falls sie nicht schon – wie das in Hagen geschehen ist – von sich aus eine Lesebühne eingerichtet haben. Hagen hat bewiesen, daß es den Impuls von außen, die Unterstützung der Nachwachsenden, wünscht.
Zu den Lesungen selbst sollten Theaterleiter Mitglieder ihrer Ensembles und einen Wortregisseur senden. Die Leitung der Diskussion sollte eine in der Materie bewanderte, in Führung und Zügelung einer Diskussion erfahrene Persönlichkeit übernehmen.
Nun soll die Diskussion aber auch zu einem bestimmten Ziel geführt werden. Nach Abschluß der Debatte richtet der Leiter die Frage an die Anwesenden, wer das nun bekannte und besprochene Stück aufgeführt sehen möchte. Bei einem überwiegend bejahenden Ergebnis würde die Lesebühne oder der Club Stück und Diskussionserführungen dem Intendanten des Theaters zuleiten, der auf diese Weise eine Anregung und den Beweis erhält, daß die Jugend da ist und nachdrängt.
Die letzte Entscheidung über eine Aufführung und Aufführungsmöglichkeit hat selbstverständlich das Theater. Den Intendanten aber mag das Faktum zu denken geben, daß die meisten der auf der Hagener Lesebühne zur Diskussion gestellten unbekannten Stücke inzwischen aufgeführt wurden oder einen Termin gefunden haben.
Es ist nicht einzusehen, daß die Theaterleiter das uneigennützige Beginnen der Theater-Clubs nicht anerkennen, ja unterstützen sollten. Denn die Clubs sind nicht gegen das Theater gerichtet, sondern für es da.
Im Routinebetrieb der städtischen Theater bleibt – so hat es den Anschein – keine Zeit zur Pflege und Heranbildung des Besuchernachwuchses. Das ist bedauerlich und gefährlich, denn nun läuft die Jugend ins Kino davon. Will man sie wiedergewinnen, so muß man sie beim nervus rerum packen. Der junge Mensch stand selten so tief in echten wie auch unechten Entscheidungen wie heute, wo man ihn in einem knappen Jahrzehnt zweimal radikal umerzieht. Wo kann, wo soll er sich aussprechen? Nun sind Sprachführer einer jungen Generation immer seine Dramatiker gewesen, von Schiller über Hauptmann bis zu Borchert. Die jungen Dramatiker sollen im Theater-Club zu Wort kommen, um das Dilemma der Jungen zu analysieren. Die Stimme der Jugend muß ertönen, die sich in den Werken ihrer ungespielten Dramatiker ausspricht, die es gibt.

Und damit sei zur Bildung der deutschen Theater-Clubs aufgerufen!

Aus: Theater-Tagebuch. Ein Spiegel unserer Bühnen, ihrer Leistungen, Pläne und Ziele Heft 3 / 1953, S. 62–64